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Innovations

Propeller und Zeigefinger

Folienverband bei Weichteildefekt am Finger

Für Amputationen an den Fingerkuppen ist der Folienverband Teil der Standardbehandlung. Aufgrund der positiven Erfahrung wurde die Indikation über die Jahre dafür ausgeweitet [1]. Mittlerweile wird auch bei freiliegendem Knochen der Folienverband angewandt, wobei bei herausstehendem Knochen dieser auf das Weichteilniveau reduziert werden soll [2]. Selbst freiliegende Gelenke sind mittlerweile keine Kontraindikation mehr [1]. Demgegenüber steht die operative Versorgung mittels verschiedener Methoden, welche herausfordernd sein kann – aufgrund der benötigten handchirurgischen Expertise und der häufig desolaten Weichteilsituation [3].

Fallbericht

Anamnese

Ein 73-jähriger Feriengast im Engadin zog sich beim Hantieren mit dem Propeller eines Modellflugzeuges eine Verletzung am linken Zeigefinger zu. Der Propeller sei aus Versehen angegangen und habe dabei den radialen Anteil der Zeigefingerkuppe mit Anteilen des distalen radialen Mittelgliedes verletzt. Die Sensibilität war stets intakt. Der Patient hatte keine relevante medizinische Vorgeschichte.

Untersuchung

Es präsentierte sich ein 73-jähriger Patient mit einem ausgeprägtem Weichteildefekt (A) radial am distalen Digitus II links (adominant) sowie Schnittwunde palmar oberhalb des Metakarpophalangealgelenks. Der Weichteildefekt an der distalen Phalanx betraf den Nagel und war gelenksübergreifend, der Knochen war nicht freigelegt. Die distale Sensibilität war intakt. Die aktive Flexion betrug 70 ° im DIP-Gelenk, die Bewegung war in allen Gelenken gegen Widerstand möglich.

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Abbildung 1: Es zeigt sich ein gelenksübergreifender deutlicher Weichteildefekt ohne Beteiligung von Knochen oder Sehnen. A) am Unfalltag  B) nach 14 Tagen, C) nach 18 Tagen D) nach 27 Tagen. Zu diesem Zeitpunkt trug der Patient keinen Semiokklusivverband mehr. E & F) nach 7.5 Monaten

Befunde

Ein Röntgenbild der Hand zeigte keine frische Fraktur, jedoch deutliche Hinweise auf Arthrosen der abgebildeten distalen Interphalangealgelenke Dig. II & III.

Diagnose und Therapie

Klinisch bestand somit ein gelenksübergreifender Weichteildefekt (Allen-Klassifikation IV,[4]) ohne Freilegung des Gelenks oder Knochens (Abb.1, A). Es erfolgte zunächst die Diskussion innerhalb des chirurgischen Teams. Argument für die operative Versorgung waren der gelenksübergreifende ausgeprägte Defekt mit entsprechendem Weichteilverlust. Als Operation wäre primär ein VY-Lappen infrage gekommen. Für die konservative Behandlung sprach die gute Erfahrung mit dem Folienverband selbst bei grossen Wunden. Ebenso waren die Sehnen intakt, der Knochen nicht betroffen und die Wunde nicht stark verschmutzt. Somit starteten wir die Therapie mit dem Folienverband. Dafür wurde der Zeigefinger luftdicht mit Opsite-Folie abgeklebt.

Anwendung Folienverband

Entscheidet man sich nach ausführlicher Untersuchung für die konservative Behandlung, erfolgt zuerst das Säubern und Débridement der Wunde. Proximal des Defektes soll die Haut gereinigt und gegebenenfalls entfettet werden. Verwendet wird in der Regel Opsite-Folie, diese wird circa 2 cm distal der Wunde zirkulär geklebt. Die Folie soll luftdicht sein, jedoch ohne Zug. Wichtig ist, dass es am distalen Ende ein wenig Platz hat für Wundsekret. Um die Folie kann ein Verband zur Polsterung angelegt werden. Der Patient sollte gut über den Heilungsverlauf und die Geruchsentwicklung aufgeklärt werden. Der Verband wird alle drei bis sieben Tage gewechselt, dabei muss die Wunde weder desinfiziert noch debridiert werden. Ist der Verband undicht, wird er vorzeitig gewechselt. Um eine Versteifung zu vermeiden, soll der Finger nicht ruhiggestellt werden und die Mobilisation, aktiv wie passiv, überwacht und gefördert werden. Eine antibiotische Prophylaxe ist grundsätzlich nicht indiziert. Der Folienverband wird beendet, sobald die Wunde trocken ist, also bei abgeschlossener Epithelialisierung. Diese kann mehrere Wochen dauern. Danach kann bei Bedarf noch ein Polsterverband zum mechanischen Schutz verwendet werden. Für entsprechendes Bildmaterial verweisen wir auf die Arbeit von Hoigné et Hug, erschienen 2014 [1,15].

Verlauf

Der Patient wurde durch die Spezialisten in unserem Wundambulatorium betreut, wo regelmässige Wundkontrollen und Verbandswechsel stattfanden (Abb. 1, B-D). Den Folienverband trug er für knapp drei Wochen. Dabei hatte er keine Schmerzen. Den Geruch empfand er jedoch als sehr störend und hielt sich darum vorzugsweise draussen auf. Um die Wundheilung zu fördern sowie die Beweglichkeit der Fingergelenke zu erhalten, machte der Patient Handtherapie.

Der Patient war sieben Monate nach dem initialen Unfall aus anderen Gründen erneut bei uns im Spital behandelt worden. Dabei zeigte sich ein ästhetisch schönes Resultat der Behandlung (Abb. 1, E-F). Auf den ersten Blick war kein Unterschied zwischen den Fingern bemerkbar. Bei genauem Betrachten fand sich eine leichte Anomalität mit geringer Striktur und asymmetrischem Nagelfalz. Die Sensibilität war weiterhin erhalten und die 2-Punkte-Diskrimination analog zur Gegenseite (3.5 mm). Temperaturabhängige Beschwerden hatte er nicht. Funktionell war eine aktive und passive Flexion im DIP nicht möglich. Das Gelenk war steif, jedoch ohne Beschwerden. Der Patient fühlte sich dadurch nicht eingeschränkt im Alltag. Im PIP-Gelenk bestand weiterhin keine Funktionseinschränkung im Vergleich mit der Gegenseite (Flexion/Extension 90 °/0/0). Der Patient fliegt weiterhin Modellflugzeuge in seiner Freizeit, ist jedoch deutlich vorsichtiger mit den scharfen Propeller-Blättern.

Diskussion

Dieser Fall verdeutlicht anschaulich, wie selbst bei einem grossen, gelenksübergreifenden Weichteildefekt sehr gute funktionelle Resultate mit konservativer Behandlung mittels Folienverband erzielt werden könne. Der Folienverband wurde erstmals 1975 beschrieben, wobei Fingeramputationen mit Fettgazeverbänden abheilten [5]. Einige Jahre später wurde durch De Boer der Okklusionsverband mit Silber-Sulphadiazin beschrieben [6]. Die Materialien wurden über die Jahre weiterentwickelt. Mennen und Wiese stellten 1993 den Semiokklusivverband vor. Sie verwendeten erstmals Opsite-Folie. Durch den Verschluss unter der «Kunsthaut» bildet sich Wundexsudat mit immunkompetenten Zellen und Wachstumsfaktoren, welche ein optimales Milieu für die Regeneration darstellen [7]. Die Wundheilung ist in diesem Fall nicht einfach eine sekundäre Wundheilung mit Narbenbildung, sondern die Fingerkuppe kann bis zu einem gewissen Grad regenerieren. Dadurch bestehen Analogien zur embryologischen Entwicklung und dem Nachwachsen von Extremitäten im Tierreich, beispielsweise bei Amphibien [8].

Als Alternative bieten sich die operativen Verfahren an, diese werden mittlerweile wesentlich seltener eingesetzt. Die operative Versorgung erfolgt alternativ mittels Composite Graft oder VY-Lappenplastiken. Beim direkten Verschluss mit Stumpfbildung resultiert häufig eine deutlich eingeschränkte Funktionalität und Ästhetik. Die Lappenplastik wurde erstmals 1947 durch Kutler beschrieben [9]. Die Technik wurde mehrfach weiterentwickelt mit Einbezug der neurovaskulären Strukturen. Grundsätzlich besteht gegenüber der konservativen Behandlung eine längere Arbeitsunfähigkeit. Zudem zeigten sich ein höheres Nekroserisiko und vermehrt eine sekundäre Wundheilung mit Narbenkontraktur, was die Sensibilität einschränkt. Nebst der Hyposensibilität berichten Patienten immer wieder über Kälteintoleranz [10]. Demgegenüber haben Patienten bei konservativer Behandlung mit Folienverband geringere Risiken oben genannte Folgeschäden zu entwickeln [11]. Ist ein intaktes Amputat vorhanden (nicht so der Fall bei unserem Patienten), kann ebenso die Replantation erwogen werden. Diese ist technisch anspruchsvoll und häufig sind die Gefässe traumatisiert. Ist die Replantation erfolgreich, können jedoch sehr gute kosmetische Resultate erzielt werden [12].

In einer klinischen Studie, welche die konservative mit der operativen Behandlung verglich, heilten alle Patienten mit Folienverband. Bei der operativ versorgten Gruppe kam es in 28% der Fälle zu einer Nekrose des Lappens. Die konservativ behandelten Patienten hatten im Vergleich zur operativ versorgten Gruppe weniger Schmerzen, geringeren Verlust der Zwei-Punkte-Diskrimination und weniger Kälteintoleranz. Trophische Veränderungen waren deutlich weniger zu beobachten. Die Unterschiede waren signifikant und führten demzufolge auch zu einem deutlich kürzeren Arbeitsausfall bei konservativ behandelten Patienten [11]. Eine randomisiert kontrollierte Studie von 2023 an 44 Patienten, durchgeführt in Strassburg, zeigte ein ausgeglicheneres Bild zwischen konservativer und operativer Behandlung. Es fanden sich keine signifikanten Unterschiede bezüglich Sensibilität. Die mittlere Heildauer mit Folienverband betrug 4.9 Wochen [13], in einer anderen Studie drei Wochen (± 9 Tage) [14]. Selbst bei gleich guten Resultaten ist zu bedenken, dass bei konservativer Behandlung das Risiko der Operation an sich entfällt. Selbst hervorstehender Knochen ist an sich keine Kontraindikation (bei intakten Sehnen). Sollte der Knochen deutlich hervorstehen, muss er gekürzt werden, kleine Vorwölbungen korrigieren sich unter dem Okklusivverband selbst [1]. Gerade für kleine Regionalspitäler mit weiten Verlegungswegen, wie bespielsweise das Spital Oberengadin, ist der Okklusivverband optimal anwendbar. Eine spezialisierte handchirurgische Versorgung ist in der Regel nicht direkt möglich und ist mit einer Verlegung ins Zentrum verbunden.

Das Fallbespiel stellt anschaulich dar, dass selbst bei gelenksübergreifenden Verletzungen eine fast komplette Funktionalität wieder herstellbar ist. Das versteifte DIP-Gelenk ist bei unserem Patienten die einzige bleibende deutliche Einschränkung, welche ihn jedoch im Alltag nicht stört. Wir gehen davon aus, dass die bereits bestandene Heberden-Arthrose durch die lokale Entzündungsreaktion der Wunde verschlimmert wurde.

Die Theorie belegt die Vorteile des Semiokklusivverbandes, um jedoch auch gute Resultate in der Praxis zu erzielen, ist die ausführliche Aufklärung des Patienten über den Ablauf, die Geruchsentwicklung und Dauer der Behandlung unabdingbar. Der Verband wird getragen, bis keine Wundsekretion mehr sichtbar und die Wunde trocken ist. Die Behandlung dauert somit subjektiv gesehen lange und die Verbände können sehr unangenehme Gerüche verbreiten. Dies hat auch unser Patient beim Follow-up berichtet. Dagegen hilft die gründliche Desinfektion proximal der Wunde, der regelmässige Verbandswechsel oder die Einlage einer Zwischenschicht mit Aktivkohle [1].

Das Wichtigste für die Praxis

Der Folienverband ist eine gute und einfach umsetzbare Wahl für die Behandlung von ausgeprägten Weichteildefekten der Finger. Frei liegende Knochen oder Gelenke sowie Nahtmaterial in situ sind dabei keine Kontraindikationen.

Die objektiven und subjektiven Ergebnisse sind vergleichbar oder sogar besser als die der operativen Behandlung. In der Regel sind Sensibilität und Funktionalität gleich gut oder besser. Das kosmetische Resultat ist sehr gut.

Wichtig ist eine ausführliche Patienteninstruktion zur Dauer der Behandlung und möglicher Geruchsemissionen. Dann ist die Patientenzufriedenheit sehr hoch.

Verdankungen

Wir bedanken uns beim Patienten für seine Einwilligung und Teilnahme. Ebenso danken wir Prof. Dr. Jörg Grünert für das Korrekturlesen und für die Mithilfe bei der Literaturrecherche.

Ethics Statement

Ein schriftlicher Informed Consent des Patienten zur Publikation liegt vor.

Conflict of Interest Statement

Die Autorinnen und Autoren haben deklariert, keine potenziellen Interessenskonflikte zu haben.

 

References
  1. Christen S, Grünert J, Hainich J, Winsauer S. Regeneration nach Fingerkuppenamputation – Möglichkeiten und Limitationen (Teil 2). pädiatrische Prax. 2023;99/3:511–26.
  2. Hoigné D, Hug U, Schürch M, Meoli M, Von Wartburg U. Semi-occlusive dressing for the treatment of fingertip amputations with exposed bone: Quantity and quality of soft-tissue regeneration. J Hand Surg Eur Vol. 2014;39(5):505–9.
  3. Lee DH, Mignemi ME, Crosby SN. Fingertip injuries: an update on management. J Am Acad Orthop Surg. 2013 Dec;21(12):756–66.
  4. Allen MJ. Conservative management of finger tip Injuries in adults. Hand. 1980;12(3):257–65.
  5. Bossley CJ. Conservative treatment of digit amputations. N Z Med J. 1975 Dec;82(553):379–80.
  6. De Boer P, Collinson PO. The use of silver sulphadiazine occlusive dressings for finger-tip injuries. J Bone Jt Surg - Ser B. 1981;63(4):545–7.
  7. Mennen U, Wiese A. Fingertip Injuries Management with Semiocclusive Dressing. J Hand Surg Am [Internet]. 1993 Aug 1;18(4):416–22. Available from: https://doi.org/10.1016/0266-7681(93)90139-7
  8. Christen S, Grünert J, Hainich J, Winsauer S. Regeneration nach Fingerkuppen- amputation – Möglichkeiten und Limitationen (Teil 1). Chir Prax. 2021;622:606–22.
  9. Kutler W. A new method for finger tip amputation. J Am Med Assoc [Internet]. 1947 Jan 4;133(1):29–30. Available from: https://doi.org/10.1001/jama.1947.62880010007007
  10. Martin C, Del Pino JG. Controversies in the treatment of fingertip amputations: Conservative versus surgical reconstruction. Clin Orthop Relat Res. 1998;353(353):63–73.
  11. Pastor T, Hermann P, Haug L, Gueorguiev B, Pastor T, Vögelin E. Semi-occlusive dressing therapy versus surgical treatment in fingertip amputation injuries: a clinical study. Eur J Trauma Emerg Surg [Internet]. 2023;49(3):1441–7. Available from: https://doi.org/10.1007/s00068-022-02193-6
  12. Venkatramani H, Sabapathy S. Fingertip replantation: Technical considerations and outcome analysis of 24 consecutive fingertip replantations. Indian J Plast Surg. 2011;44(2):237–45.
  13. Bensa M, Sapa MC, Al Ansari R, Liverneaux P, Facca S. Semi-occlusive dressing versus surgery in fingertip injuries: A randomized controlled trial. Hand Surg Rehabil. 2023;42(6):524–9.
  14. Quadlbauer S, Pezzei C, Jurkowitsch J, Beer T, Keuchel T, Hausner T, et al. Der Okklusionsverband zur Behandlung von Allen III und IV Fingerkuppenverletzungen als Alternative zu lokalen Lappenplastiken. Unfallchirurg. 2017;120(11):961–8.
  15. Hoigne D, Hug U. Amputationsverletzungen am Fingerendglied: Regeneration mittels Folienverband. Swiss Med Forum ‒ Schweizerisches Medizin-Forum. 2014;14(18):356–60.

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