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Focus

Die HSM aus ihrem Korsett befreien

«Sei stur im Ziel, aber flexibel beim Weg dorthin»: Das Leitmotiv, das häufig in Führungsseminaren propagiert wird, birgt den Schlüssel für Modifikationen bei der Vergabe von Leistungsaufträgen in der Hochspezialisierten Medizin (HSM), die von vielen Chirurgen gewünscht werden. 

Die Zielsetzung der HSM, nämlich den Patientinnen und Patienten auch bei anspruchsvollen Verfahren die bestmögliche Versorgung zu bieten, ist unbestritten. Zumal auch Fachgesellschaften wie die Schweizerische Gesellschaft für Chirurgie (SGC) oder die Schweizerische Gesellschaft für Viszeralchirurgie (SGVC) die Förderung der Qualität als eine ihrer Kernaufgaben betrachten. Die Geister scheiden sich jedoch an der Frage, wie man dieses hehre Ziel erreichen soll.

Derzeit sind die Kriterien für die Vergabe von HSM-Leistungskriterien wie ein eng geschnürtes Korsett: Für Aussenstehende zwar hübsch anzusehen, für die Träger aber alles andere als bequem, praktisch und gesund. Auf der offiziellen Website wird das «HSM-Planungsverfahren» zwar als «dynamischer Prozess» bezeichnet. Bei näherem Betrachten kommt man jedoch nicht um die Feststellung umhin, dass wir es mit einem bisweilen trägen und eher unflexiblen System zu tun haben, bei dem derzeit vorab die Mindestfallzahlen über Sein oder Nicht-Sein entscheiden.

Für grossen Unmut sorgt unter Chirurgen nicht zuletzt der Umstand, dass es keine klar definierten Regeln zur Wiedererlangung von HSM-Leistungsaufträgen gibt: einmal draussen, immer draussen – die HSM als geschlossene Gesellschaft! Dazu kommt, dass sich die Politik auf chirurgische Parameter fixiert und andere Bereiche, die bei Tumorbehandlungen ebenfalls eine bedeutende Rolle spielen, weitestgehend ausblendet. Last but not least werden medizinische Fortschritte im HSM-System nicht zeitnah abgebildet, was die Gefahr birgt, dass Operateure aus «politischen» Gründen an Standardverfahren festhalten, obwohl es für die Patienten inzwischen wirksamere Alternativen gäbe. Womit der Sinn und Zweck der HSM definitiv ad absurdum geführt wird.

Eine Kurskorrektur ist daher angebracht, um das Ziel – bestmögliche Versorgung der Patienten – nicht aus den Augen zu verlieren. In der SGVC haben wir daher drei Handlungsempfehlungen ausgearbeitet:

 1. Klare Re-Entry-Kriterien definieren

Übung macht den Meister. Von Niccolò Paganini, dem italienischen Geigenvirtuosen, der sein Instrument auf seine eigene, unvergleichliche Weise beherrschte, stammt die Erkenntnis: «Wenn ich einen Tag nicht übe, spüre ich den Qualitätsabfall. Wenn ich zwei Tage nicht übe, bemerkt es auch das Publikum.» In diesem Sinne ist unbestritten, dass Mindestfallzahlen essenziell sind, um eine hohe Behandlungsqualität sicherzustellen. Viele Spitäler und Kliniken sind in den vergangenen Jahren an dieser Anforderung gescheitert und haben Leistungsaufträge verloren. Die Folgen sind jeweils gravierend: Die Spitäler verlieren an Attraktivität als Ausbildungsstätte und Arbeitgeber. Dazu kommen noch ökonomische Einbussen, die oft schwer zu quantifizieren sind. Für Frust sorgt die Tatsache, dass ein negativer Entscheid einer ewigen Verbannung gleichkommt. Denn es gibt nach wie vor keine Kriterien, die definieren, wie man nach dem Verlust des Leistungsauftrages wieder in den Kreis der HSM-Spezialisten zurückkehren kann.

Unsere Empfehlung: Spitäler sollen durch spezifische und transparente Massnahmen wie beispielsweise die Rekrutierung von Experten oder Kooperationen mit anderen Zentren die Möglichkeit haben, verlorene Leistungsaufträge zurückzugewinnen.

2. Medizinische Fortschritte berücksichtigen

Das Rektumkarzinom ist ein Paradebeispiel dafür, wie medizinische Fortschritte eine Therapie verändern. Galt die operative Behandlung lange Zeit als Standard, so gibt es mittlerweile eine stetig steigende Anzahl von Patienten, die von der «Watch-and-Wait»-Strategie profitieren. Dies bedeutet, dass bei vollständigem Ansprechen auf eine neoadjuvante Therapie keine operative Resektion mehr durchgeführt wird. Diese Entwicklung hat zu einem signifikanten Rückgang der operativen Fallzahlen geführt: Laut der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) sank die durchschnittliche Anzahl an operativen Primärfällen für das Rektumkarzinom in zertifizierten Zentren zwischen 2017 und 2022 um über 13 %. Gleichzeitig hat sich der Anteil der Patienten, die nach dem «Watch-and-Wait»-Ansatz behandelt werden, von 1,2 % auf 3,5 % erhöht. Solchen Trends stellen die bestehenden Mindestfallzahlen infrage, da sie nicht mehr die Realität der Versorgung widerspiegeln. Die DKG hat daher bei Rezertifizierungen die operative Primärfallzahl von mindestens 18 auf mindestens 16 Rektum-OPs gesenkt, sofern ein «ansonsten unauffälliges Auditergebnis» vorliegt.

Unsere Empfehlung: Die Anforderungen an Mindestfallzahlen sollten in sinnvollen Abständen auf Basis aktueller Entwicklungen in der Medizin angepasst werden. Dabei ist insbesondere der Rückgang der operativen Fallzahlen durch neue Behandlungsmethoden zu berücksichtigen.

3. Mehr Flexibilität walten lassen

Bei einer Tumorbehandlung spielt der chirurgische Eingriff eine Schlüsselrolle. An einer Therapie sind jedoch noch weitere Fachdisziplinen beteiligt, namentlich die Radiologie, Onkologie, Strahlentherapie, Gastroenterologie oder interventionelle Radiologie. Für die HSM-Zuteilung werden allerdings hauptsächlich chirurgische Aspekte als Gradmesser verwendet. Das ist etwa so, als würde man für die Verleihung der Sterne bei einem Hotel nur die Qualität der Matratze und des Kissens heranziehen … Unserer Meinung nach ist eine ganzheitliche, interdisziplinäre Betrachtung und Beurteilung des Leistungsangebotes im Bereich HSM denn auch zwingend – so wie dies bei den Zertifizierungen der spezifischen Zentren, etwa durch die DKG, bereits der Fall ist.

Damit würde auch dem oben erwähnten medizinischen Fortschritt Rechnung getragen – im Gegensatz zum aktuellen System. Mit einer Fokussierung auf (chirurgische) Mindestfallzahlen läuft man Gefahr, dass sich Spitäler auf klassische Eingriffe versteifen und damit den Patienten nicht mehr die bestmögliche Versorgung zukommen lassen. Denn welcher Operateur setzt schon auf die «Watch-and-Wait»-Strategie, wenn er beim Rektum an den Fallzahlen gemessen wird?

Spitäler, die durch medizinischen Fortschritt (oder vorübergehende Schwankungen) ihre Mindestfallzahlen nicht erreichen, sollten die Möglichkeit erhalten, durch nachweisliche Qualitätsverbesserungen und spezialisierte Rekrutierung von Fachpersonal ihre Leistungsaufträge zu behalten oder zurückzugewinnen. Wie bereits erwähnt, erlaubt die DKG in bestimmten Fällen eine Zertifikatsverlängerung bei leicht unterschrittenen Fallzahlen, wenn andere Qualitätskriterien erfüllt sind. Eine ähnliche Handhabung mit klar definierten und nachvollziehbaren Kriterien könnte auch für die Schweiz sinnvoll sein, um die Dynamik im HSM-System zu erhöhen und gleichzeitig die Qualität zu gewährleisten.

Unsere Empfehlung: Da die Behandlung von Tumoren wie dem Rektumkarzinom oft mehrere Fachdisziplinen umfasst, sollten Zertifizierungen die gesamte Behandlungskette abbilden. Temporäre Abweichungen von den Mindestfallzahlen könnten durch alternative Qualitätskriterien wie die Integration innovativer Therapien oder Zufriedenheit der Patienten ausgeglichen werden.

Fazit: Innovation fördern

Bei der HSM besteht Handlungsbedarf. Dabei trifft die Feststellung zu, die der britische Historiker Henry Thomas Buckle im 19. Jahrhundert mit folgenden Worten auf den Punkt brachte: «Der grösste Feind des Fortschritts ist nicht der Irrtum, sondern die Trägheit.» Für die HSM ist es daher essenziell, dass sich das träge und unflexible System den dynamischen Entwicklungen in der Medizin anpasst. Klare und transparente Regeln zur Wiedererlangung von Leistungsaufträgen sowie eine regelmässige und zeitnahe Überprüfung von Mindestfallzahlen sind dabei entscheidende Massnahmen.

Die Zukunft der HSM liegt in einem System, das Qualität nicht nur durch Zahlen definiert, sondern auch die Fähigkeit zur Innovation und Anpassung fördert. Nur so kann die Schweiz sicherstellen, dass ihre hochspezialisierte Medizin weltweit weiterhin als Vorbild gilt – für Spitzenqualität in der Patientenversorgung und für ein Gesundheitssystem, das auf die Herausforderungen der modernen Medizin vorbereitet ist.

 

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