«Wir dachten, so etwas ist im Europa des 21. Jahrhunderts mit noch lebendigen Erinnerungen an die Gräueltaten des 2. Weltkriegs und den internationalen Abkommen nicht möglich und jetzt befinden wir uns mitten im Krieg», sagt Vitali Kozhukhar, Leiter der Urologischen Klinik am Vitacenter, einer privaten Klinik in Zaporozhye, besorgt. Es fällt ihm schwer, seine ganze Verzweiflung, Wut und das Chaos im Kopf am Telefon in Worte zu fassen.
«Am 24. Februar 2022 um 4:30 Uhr wurden wir in der Stadt durch die Bombardierung geweckt. In der Dämmerung erkannten wir russische Flugzeuge, welche zu den Flughäfen des Militärflugplatzes kamen. Wir hörten die Sirenen. Die männliche Bevölkerung traf sich an der zentralen Tankstelle. Es wurde diskutiert, was zu tun ist. Einige sagten, sie würden die Familien abholen und fliehen. Aber die meisten… fragten, fest entschlossen ihre Heimat zu verteidigen, nach Waffen».
Swiss Surgical Teams
Swiss Surgical Teams ist ein ehrenamtlich tätiger Verein, gegründet 1998, der sich in medizinischer Entwicklungshilfe engagiert. Einsatzorte sind Tajikistan, Tansania und die Solomonen. Ein Mitglied mit ukrainischem Hintergrund hat den Vorschlag eingebracht, dringend benötigtes, medizinisches Material zu liefern. Primär handelt es sich um Abbindsysteme (Tourniquets), die für die Behandlung von Kriegsverletzten dringend benötigt werden.
In den ersten Tagen verliessen die Menschen die Stadt in Scharen. Am südlichen Stadtrand hörte man wiederkehrende Kanonaden und nachts sah man von den Hügeln das Leuchten der Geschosse. Während sich die besorgte Bevölkerung noch an friedliche Tage erinnerte, erreichte diese das Gerücht, dass Zivilisten am nächsten Tag in der Nähe des Stadtzirkus bewaffnet werden sollten. Als Vitali Kozhukhar dort gegen 9 Uhr morgens erschien, hatten sich bereits Zehntausende eingefunden. Fast schon neidisch schaute er denjenigen zu, welche ein Maschinengewehr mit vier Magazinen erhielten. Am Ende des Tages war auch er bewaffnet. Ein Mensch mit einer Waffe… das ist ein anderer Mensch. Beunruhigt verbrachte er die folgende Nacht. Aber die Gedanken daran, das Heimatland und die Menschen um ihn herum verteidigen zu können, bestärkten ihn, das einzig Richtige zu tun.
Fast alle Patienten der Vitacenter Klinik wurden in den folgenden Tagen entlassen. Barrikaden aus Sandsäcken, Metall- und Holzschrott wurden vor unserem Spital errichtet. Die Kollegen, die geblieben waren, mussten den laufenden Betrieb aufrechterhalten, mit stark reduzierter Equipe den Ansturm der Patienten, die aus dem Süden und Osten geflüchtet sind, bewältigen. Hinzu kam auch, dass in dieser Situation der Unsicherheit die meisten Frauen mit Kindern die Stadt selbst verlassen haben. Hals über Kopf flohen sie in den Westen des Landes oder weiter nach Europa. Von einem Tag auf den anderen fehlte im Spital mehr als die Hälfte des weiblichen Personals.
«Nach ersten Momenten von bedrückender Ratlosigkeit wurden in zivilen Betrieben von den Munizipalitäten in Zaporozhya Trupps der Territorialverteidigung gebildet», erzählt Kozhukhar. Das Ziel war es, nach Abzug von Polizei und Militär die Menschen in der Stadt vor Übergriffen und Plünderungen zu schützen. Während sich die Zentralregierung auf die Mobilisierung der Streitkräfte und die Landesverteidigung an der Front fokussierte, wurden Ärzte, Pfleger, Techniker, Köche, Rettungssanitäter in die Grundlagen der Militärkunde eingewiesen. Einige wurden dafür freigestellt, andere wurden nach Feierabend oder in der Mittagspause instruiert.
Der direkte Kontakt zu den Menschen im Krieg veränderte unsere Rolle als indirekt beteiligte Beobachter. Dr. med. Andrei Zdoroveac, ein aus Moldawien stammender Gefässchirurg, Freund und Kollege, hatte diesen hergestellt, nachdem er um Hilfe von ukrainischen Freunden gebeten worden war. Durch seine Organisation und Kontakte konnten Kozhukhars Kinder und Ehefrau von den Bomben in den Westen fliehen. Die häufigsten Verletzungen sind Splitterläsionen nach Explosionen. Schwerverletzte mit Blutungen haben nur bei adäquatem Einsatz von First-Aid-Kits eine reelle Chance, den ein- bis zweistündigen Transport von der 50 bis 70 km entfernten Front bis ins Notfallzentrum nach Zaporozhye zu überleben. Letale Blutungen der Extremitäten können mit Tourniquets, welche neben anderen Mittel Mangelware sind, während des Transportes aus den umkämpften Gebieten bis zur ärztlichen Versorgung besser kontrolliert werden. Da rasch klar wurde, dass den Soldaten viele lebensrettende Materialien nicht zur Verfügung stehen, wurden das «Swiss Surgical Teams» (SST) in Zusammenarbeit mit «Volunteers for Humanity» aktiv. Der eigentliche Wirkungsradius der humanitären und medizinischen Hilfe durch Langzeit-Projekte des SST mit dem Schwerpunkt auf Knowledge Transfer wurde den aktuellen Ereignissen angepasst.
«Jetzt nach fast einem Jahr und trotz der Offensive auf Zaporozhye, trotz der infrastrukturellen Zerstörung, trotz der unendlich langen Reihen Verstorbener auf unseren Friedhöfen... wissen wir, dass wir für die Zukunft unserer Kinder kämpfen, für ihre Freiheit und zum Gedenken an all unsere gefallenen Freunde und Nachbarn. Ich möchte glauben, dass dies der allerletzte Krieg in Europa sein wird!»
Vitali Kozhukhar
Im März 2022 wurde in der Geschäftsleitungssitzung des SST und mit uneingeschränkter Unterstützung durch das SST-Präsidium unter der Leitung von Georg Liesch eine Sonder-Spendenaktion ins Leben gerufen. Insgesamt konnten wir seit Kriegsbeginn trotz des aktuellen Materialmangels und Lieferschwierigkeiten gemeinsam mit unseren Unterstützern drei Transporte mit über einer Tonne Hilfsgütern organisieren. Im April 2022 waren es neben medizinischen Gütern der Notfallversorgung mehrere Hundert Tourniquets, welche zunächst nach Chortkiv nahe Kiev gebracht und später von Freiwilligen aus Zaporozhye abgeholt wurden. Die beiden anschliessenden Hilfstransporte konnten trotz der wenige Kilometer nahen Kriegsfront direkt nach Zaporozhye erfolgen. Zuletzt wurde zur Verbesserung der Diagnostik ein portables Ultraschall-Gerät zur Verfügung gestellt.
Die Transporte und weitere Hilfsgüter wie Generatoren und viele Medikamente wurden vom Verein «Volunteers for Humanity», welcher sich ehrenamtlich für Menschen auf der Flucht engagiert, organisiert.
Vor Ort in Zaporozhye ist Mykhailo Sofilkanich, Ärztlicher Leiter der Vitacenter Klinik, unser direkter Ansprechpartner. Das Wissen um benötigte Materialien und Güter erleichtert die gezielte Beschaffung einerseits, andererseits wird garantiert, dass die Hilfsgüter zu den Bedürftigen gelangen und entsprechend unseren Vorstellungen eingesetzt werden. Sofilkanich hat innert 72 Stunden nach Kriegsbeginn ein Ärzte-Team für die Notfallversorgung von Verletzten im Militärkrankenhaus abgestellt. Die dort arbeitenden Militärärzte waren zu diesem Zeitpunkt bereits an der Front im Einsatz. Zu Zeiten der russischen Offensive bis zum Sommer 2022 wurden täglich bis zu 120 Verletzte in Zaporozhye und von einem weiteren mobilen Front-Ärzteteam chirurgisch behandelt. Die Grenze zwischen dem privaten und öffentlichen Sektor löste sich komplett auf. Die diagnostischen und therapeutischen Leistungen werden entsprechend den Ressourcen allen Notdürftigen unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Und ohne internationale Hilfsgüter wie Medikamente und anderes medizinisches Material wäre dies überhaupt nicht möglich gewesen, berichtet Sofilkanich. Nach der Rückeroberung von Kherson haben sich die Kämpfe nahe Zaporozhye durch Truppenverlagerungen intensiviert. Immer wieder versuchen die russischen Streitkräfte, die ukrainische Verteidigung zu durchbrechen. Dadurch kam es in den letzten Wochen erneut zu einem Anstieg von Verletzen, welche im Militärkrankhaus behandelt werden. Die Mitarbeiter:innen der Spitäler in Zaporozhye sind aktuell neben der Tätigkeit in der Klinik auch Freiwillige und unterstützen die Streitkräfte der territorialen Verteidigung bei der ersten Hilfe von Verwundeten, welche durch Gebäudetrümmer verschüttet wurden, oder beim Löschen von Bränden. Geplante Operationen finden nur noch selten statt, alles ist der Notfallversorgung unterstellt. Dies auch, weil viele Pflegende und Ärzt:innen in den Militärdienst einberufen wurden. Sofilkanich und alle seine Mitarbeiter:innen wurden für ihren täglichen Einsatz und die aufopferungsvolle Arbeit mit Medaillen des Verteidigungsministeriums ausgezeichnet.
Aktive und gezielte Hilfe für die direkt Betroffenen ist unser Ziel. Der ständige Kontakt und Austausch mit den ärztlichen Kollegen und Hilfskräften in Zaporozhye sind dabei extrem wichtig. Wir können die unmittelbare Notwendigkeit bestimmter Medikamente oder Notfallmaterialien erfahren und wie im Falle von portablen Ultraschall-Geräten oder speziellen Stromerzeugern gezielt decken. Werden auch Sie aktiv und unterstützen Sie uns mit Ihrer Spende an «Swiss Surgical Team» oder «Volunteers for Humanity» mit dem Vermerk «Hilfstransporte Ukraine».