Zum Hauptinhalt springen
Focus

Ein Drittel der Schweiz ging fast vergessen

Dem Kantonsspital Graubünden wurde im 2022 der HSM-Leistungsauftrag in den Teilbereichen Intensivpflege für Früh- und Termingeborene sowie dem kindlichen Polytrauma inklusive Schädelhirntrauma entzogen. Dieser Negativentscheid hätte – unter Berücksichtigung der Nicht-Zuteilung des benachbarten Kantons Tessin, tiefgreifende Konsequenzen in der pädiatrischen Grund- und Spezialversorgung in der Südostschweiz gehabt, also einem guten Drittel der Fläche der Schweiz.

Im Rahmen der Reevaluation der HSM-Leistungsaufträge im Bereich der hochspezialisierten Pädiatrie und Kinderchirurgie wurde den sich bewerbenden Spitälern im Herbst 2022 das rechtliche Gehör in Bezug auf die geplante Leistungszuteilung gewährt. Das Kantonsspital Graubünden (KSGR) als Zentrumsversorger der Südostschweiz musste dabei feststellen, dass in den Teilbereichen Intensivpflege für Früh- und Termingeborene sowie dem kindlichen Polytrauma inklusive Schädelhirntrauma keine HSM-Leistungszuteilung mehr vorgesehen war. Begründet wurde der Entscheid im Entwurf einerseits mit der fehlenden 24/7-Kinderchirurgie sowie pädiatrischen Radiologie vor Ort. Eine teleradiologische Lösung in Kooperation wurde nicht akzeptiert. Zudem wurde auch die fehlende Anerkennung als Weiterbildungsstätte in Kinderchirurgie der Kategorie A oder B bemängelt. Dieser Negativentscheid hätte – unter Berücksichtigung der Nicht-Zuteilung des benachbarten Kantons Tessin – tiefgreifende Konsequenzen in der pädiatrischen Grund- und Spezialversorgung in der Südostschweiz gehabt, also einem guten Drittel der Fläche der Schweiz.

«Dieser Negativentscheid hätte – unter Berücksichtigung der Nicht-Zuteilung des benachbarten Kantons Tessin – tiefgreifende Konsequenzen in der pädiatrischen Grund- und Spezialversorgung in einem guten Drittel der Fläche der Schweiz.»

Obwohl eine Hospitalisation auf einer neonatalen oder pädiatrischen Intensivstation (NICU/PICU) auf individueller Ebene ein seltenes Ereignis darstellt, beträgt das kumulative Risiko einer NICU/PICU-Einweisung im Kindesalter 5–10 %. Dieser Umstand zeigt sich dann auch in der angespannten Versorgungslage für neonatale und pädiatrische Intensivmedizin. In den Jahren 2019 und 2020 mussten gemäss Ausführungen im erläuternden Bericht des HSM-Fachorgans vom September 2022 schweizweit über 250 Neonaten und Kinder wegen Kapazitätsengpässen abgewiesen respektive weiterverlegt werden. Die Nicht-Zuteilung an das KSGR für diesen Teilbereich hätte die Problematik der Unterversorgung weiter verschärft und dies, obwohl das KSGR bezüglich Outcome-Qualität (SwissNeoNet Datenbank) keinerlei Auffälligkeiten im Vergleich zu den anderen Perinatalzentren zeigte. Entsprechend klar sprachen sich die betroffenen Fachgesellschaften für Pädiatrie, Neonatologie und Intensivmedizin sowie das Swiss Neonatal Network für eine erneute Leistungszuteilung an das Kantonsspital Graubünden aus. Auch mehrere nationale Leistungserbringer der Kinder-Intensivmedizin unterstützten mit eigenen Stellungnahmen die Churer Anstrengungen, die drohende Schliessung der Kinder-IPS am KSGR zu verhindern. Über viele Jahre hinweg haben sich die Schweizer Kinderspitäler aufgrund der grossen, saisonalen Schwankungen gegenseitig kollegial unterstützt, intensivpflichtige Neugeborene oder Kinder in ihren NICU/PICU unterzubringen. Das KSGR, als wichtiger und zuverlässiger Partner dieses Netzwerks, wäre mit der Nicht-Zuteilung weggebrochen, zumal die Kinder-Intensivmedizin ohne Leistungszuteilung am Kantonsspital Graubünden sowohl personell wie auch finanziell nicht mehr aufrechterhalten hätte werden können.

«Über viele Jahre hinweg haben sich die Schweizer Kinderspitäler aufgrund der grossen, saisonalen Schwankungen gegenseitig kollegial unterstützt, intensivpflichtige Neugeborene oder Kinder in ihren NICU/PICU unterzubringen.»

Nicht minder dramatisch wäre die Nicht-Zuteilung im Teilbereich schweres Trauma und Polytrauma inkl. Schädelhirntrauma gewesen. Die Region Südostschweiz stellt durch ihre alpine Geographie und Topographie (über 170 Talschaften) seit jeher eine grosse Herausforderung in der zeitkritischen Notfall- und rettungsmedizinischen Versorgung dar. Dies gilt insbesondere für die Behandlung von schwerverletzten Kindern und Erwachsenen. Neben den bekannten Unfallursachen wie Arbeitsunfälle oder Verkehrsunfälle stellen Sport- und Freizeitunfälle im Tourismuskanton Graubünden eine traditionell grosse Patient:innengruppe dar. Betroffen sind neben der ortsansässigen Bevölkerung vor allem auch Tourist:innen, welche in der Bündner Bergwelt ihre Freizeit verbringen (2021: 7'447'784 Logiernächte; Quelle: Graubünden Tourismus). Für die korrekte Bedarfserhebung der Polytraumaversorgung in einer Region muss daher neben der ständigen Wohnbevölkerung auch die Zahl von Tourist:innen und Zweitwohnungsbesitzer:innen jeden Alters mit berücksichtigt werden. Gerade in der Gruppe der grösseren Kinder und Adoleszenten zeigte sich in den letzten Jahren eine relevante Zunahme an Hochenergietraumata in Folge neuer Sportarten wie Downhill Mountain Biking (Trauma Datenbank KSGR: 26 Trauma-Fälle 2019, 50 Trauma-Fälle 2023) oder Freestyle Snowboarden und Skifahren. All diese jungen Menschen und ihre Familien erwarten im Bedarfsfall eine unverzügliche, qualitativ hochstehende Notfallversorgung. Eine Verlängerung der Rettungszeit zum Beispiel vom Snowpark Corvatsch im Engadin nach Zürich oder St. Gallen kann für das betroffene Kind fatale Folgen haben; insbesondere wenn die meteorologische Situation keine Luftrettung erlaubt. Dies impliziert eine vorausschauende und bedarfsgerechte Planung der Gesundheitsversorgung sowohl seitens der kantonalen Behörden als auch seitens der IVHSM-Organe für die HSM-Bereiche.

DSC_5413.JPG

Das KSGR zählt nachweislich zu den besten Traumazentren in Mitteleuropa. Dies belegen die Daten des Swiss Trauma-Registers (Traumapatienten über 16 Jahre) im Benchmark mit allen zwölf HSM-Traumazentren der Schweiz sowie des DGU-Registers (Belgien, Deutschland, Finnland, Luxemburg, Niederlande, Österreich und Slowenien) seit Beginn der Erhebung 2017. Im Jahr 2021 (auf dieses Jahr bezog sich das KSGR in der Stellungnahme gegenüber den HSM-Organen im Jahre 2022) wies das KSGR eine Mortalität von 5.5 % gegenüber dem Gesamt-STR von 8.8 % respektive der DGU von 11.8 % aus. Dies obwohl die im KSGR behandelten Patient:innen schwerer verletzt waren als der Durchschnitt im STR ((Mean ISS KSGR 27.0; Mean ISS CH 25.6; Shock (BD ≤ 90 mmHg) KSGR 17.9, Schock CH 13.8)). Die ausgezeichnete Prozessqualität in der Erstversorgung wie auch in der Behandlung wurde über Jahre durch die schweizweit kürzeste Zeit von Patienten-Ankunft bis "Whole-body-CT“ sowie die kürzeste Hospitalisationsdauer in Relation zum ISS unterstrichen. Die Qualitäts-Indikatoren werden laufend monitorisiert und zeigten sich auch in den Folgejahren stabil. Von dieser Exzellenz in der Traumaversorgung profitieren am KSGR in gleichem Masse wie die Erwachsenen auch die verletzten Kinder und Jugendlichen, denn die Erstversorgung erfolgt in diesen Alterskategorien durch ein sehr gut eingespieltes Team aus Kinderärzt:innen, Chirurg:innen und Anästhesist:innen in einem hochmodernen Schockraum mit Sliding Gantry CT. Die gleichzeitig in einem Team verfügbare pädiatrische, traumatologische und anästhesiologische Fachkompetenz am verletzten Kind stellt in der Schockraum- und Erstversorgungsphase ein Alleinstellungsmerkmal des KSGR dar. Insbesondere die hohe traumatologische Expertise im Schockraum-Management der Erwachsenen-Chirurg:innen ist beim lebensbedrohlich verletzten Kind allseits sehr geschätzt. Die sehr tiefe In-Hospital-Mortalität von schwerverletzten Kindern von 2.8 % (2017–2022, 72 Kinder) unterstreicht den Erfolg dieses interdisziplinären Behandlungskonzeptes. Ein schweizweiter Vergleich ist bei fehlendem Kinder-Polytraumaregister bislang nicht möglich.

«Ein schweizweiter Vergleich ist bei fehlendem Kinder-Polytraumaregister bislang nicht möglich».

Die Verantwortlichen des KSGR haben sich mit der breiten Unterstützung vieler medizinscher Fachgesellschaften und Vereinigungen sowie der Politik und vor allem der Bevölkerung beim HSM-Beschlussorgan für eine Leistungszuteilung eingesetzt. Mit grosser Erleichterung durfte das KSGR im definitiven Beschluss vom 14. März 2024 vom Erhalt der Leistungszuteilung in den Teilbereichen Kinder-Intensivpflege und Kinder-Polytrauma, wenn auch unter Vorbehalt respektive mit zeitlicher Limitation, Kenntnis nehmen. Damit ist die hochspezialisierte und oft zeitkritische Versorgung in der Südostschweiz für Einheimische und Tourist:innen vorerst weiterhin sichergestellt. Die Aufrechterhaltung einer qualitativ hochstehenden Notfallversorgung in allen Landesteilen der Schweiz darf nicht alleinig über Qualitäts-Surrogatmarker wie z.B. Fallzahlen oder Strukturkriterien gesteuert werden, zentral ist die Mitberücksichtigung von Geographie, Topographie und damit Notfalltransportwegen und insbesondere auch die ausreichende Mitberücksichtigung der Outcome-Qualität, was das HSM-Beschlussorgan in den Teilbereichen Intensivpflege für Früh- und Termingeborene sowie dem schweren kindlichen Polytrauma inklusive Schädelhirntrauma letztlich in die Entscheidungsfindung einbezogen hat. Zugute kommt dies letztlich unseren kleinsten Patient:innen und deren Familien.


 

 

 

 

 

Damit diese Website ordnungsgemäß funktioniert und um dein Erlebnis zu verbessern, verwenden wir Cookies. Ausführlichere Informationen findest du in unserer Cookie-Richtlinie.

Einstellungen anpassen
  • Notwendige Cookies ermöglichen die Kernfunktionen. Die Website kann ohne diese Cookies nicht richtig funktionieren und kann nur deaktiviert werden, indem du deine Browsereinstellungen änderst.